UNFASSBARES GLÜCK

Die neue Bilderhöhle und der Similaun-Mann

Georg Kleemann aus der Stuttgarter Zeitung v.30.10.91

So viel Glück wie dieses Jahr hat die Archäologie noch selten gehabt.Zuerst ist der bronzezeitliche Similaun-Mann samt seiner Kleidung und Ausrüstung in Tirol gefunden worden, und dann wurde am Mittelmeer südöstlich von Marseille eine neue steinzeitliche Bilderhöhle entdeckt als zweites originales und unversehrtes Zeugnis aus einer Epoche, zu der uns nur Brücken des allgemein menschlichen Verständnisses führen.

Den um 4000 Jahre alten Körper des Mannes im Eis hat ein Felsspalt davor bewahrt, vom Similaun-Gletscher zermahlen zu werden.

Die Höhle in den Kalkfelsen der Calanques bei Cassis ist vom Meer geschützt.Dessen Wasserspiegel lag nämlich, als die Steinzeitmaler mit ihren schwarzen Erdfarben durch den 150 Meter langen Höhleneingang schlüpften, um den hintersten Teil der Höhle auszumalen, wesentlich tiefer.Vielleicht schmückten sie auch den Höhlenzugang,doch davon kann heute nichts mehr da sein,denn dieser Eingang liegt heute 37 Meter unter dem Meer, so daß nur als Taucher qualifizierte Archäologen noch zu den Bildern vordringen können.

Mit solchen Überraschungen haben die Ausgräber am Saum des Mittelmeeres schon immer rechnen müssen. Vor allem die Klimaschwankungen des Eiszeitalters, in dem wir möglicherweise noch immer leben, sorgen für unermeßlich mächtige Eisdecken an den Polen während den Kaltzeiten und für das Abschmelzen des Eises während den Warmzeiten. Binnenmeere wie das Mittelmeer haben dadurch im Laufe der Jahrhunderttausende höchst unterschiedliche Zuflüsse, die die Verdunstung an ihrer Oberfläche oft nicht ersetzen können; diese Meeresoberflächen atmen geradezu.

Vor 400 000 Jahren zum Beispiel lebten Steinbockjäger über dem heutigen Nizza an einem Meeresstrand.Von dort brachen sie ins Hinterland auf, um Steppenelefanten und Hirsche zu jagen - ihr Uferwohnplatz ist am originalen Fundplatz im Museum "Terra Amata" zu sehen.

Vorgeschichte im Original

In der neuen Bilderhöhle war es umgekehrt, hier hat die Klimasituation unserer Nacheiszeit, unserer Wärmeschwankung während einer Kaltzeit - oder unserer beginnenden Warmzeit? -, das Meer wieder aufgefüllt und den Zugang aus der vergangenen Würm-Kaltzeit ablaufen lassen.Diese Kaltzeit hatte ihren Höhepunkt vor zwanzigtausend Jahren, und dem entspricht das inzwischen festgestellte Alter der Bilder von 18 000 Jahren.

Die Bedeutung der Höhle liegt damit, was Kunsthistoriker vielleicht kränken mag, vor allem in dem Umstand, daß auch dort, wie beim Similaun-Mann, ein Stück Vorgeschichte im Originalzustand mit den neuesten Methoden der Archäologie untersucht werden kann. Zwar wäre es wohl am besten,die Höhle für weitere zehntausend Jahre zu verschließen, doch weil sich eine jede Generation einbildet, auf der absolut erreichbaren Höhe der technischen Entwicklung zu stehen, wird das kaum geschehen. Und so hilft nur die Versicherung,daß wir es tatsächlich weit gebracht haben bei der Ausgrabungstechnik während der vergangenen Jahrzehnte.

Als der Ausgräber Gustav Riek in den fünfziger Jahren die Brillenhöhle im Blaubeueren Blautal ausgrub, räumte er nach dem Vermessen und Fotografieren sogar zwei Steingehäuse weg samt den Resten der Feuer, an denen sich vor wohl 30 000 Jahren Rentierjäger gewärmt hatten. Riek wußte noch nichts von der physikalischen Datierungsmethode mit dem Kohlenstoffisotop C14 , mit dem das Alter von organischem Material bestimmt werden kann. Inzwischen ist das nur eine von mehreren recht zuverlässigen naturwissenschaftlichen Datierungsmethoden geworden. Der Satz, daß jede Ausgrabung eine Zerstörung ist, gilt heute also nicht mehr im selben Maße wie noch vor einer Generation, dennoch wird im Blautal die Geißenklösterle-Höhle nur in Millimeter- Schichten ausgegraben. Dieses schwäbische Pompeji der Urgeschichte bis hinab zu den Neandertaler-Zeiten, seit 34 000 Jahren voll der frühesten plastischen Kunst der Menschheit, wird zu Recht als eine Kulturaufgabe für unbestimmt viele Jahrzehnte angesehen.

Hundert Milligramm Holzkohle

Die Franzosen tun längst dasselbe. Wo eine Fundschicht nicht gefährdet ist, lassen sie sich ebenfalls verschwenderisch viel Zeit; die neue Höhle hat alsso gute Aussichten, wesentlich mehr zu verraten als alle ihre Vorgänger, die dem Publikum so lange zum Schau-Fraß vorgeworfen worden waren, bis die ursprünglich "fast knallig farbigen Bilder" von eingeschleppten Algen überwuchert wurden, wie das im weltberühmten Lascaux geschehen ist. Allein schon das Kohlendioxyd in der Atemluft der Besucher, deren Körperwärme und die Feuchtigkeit ihrer Kleidung verändern die entscheidenden Klimazustände in den Bilderhöhlen - es bleibt also gar nichts anderes übrig, als die kostbarsten zu schließen, um ihre Pracht zu erhalten.

Es wird überraschen, daß es erst seit kurzem genaue und direkt von den Bildern ablesbare Altersangaben dieser Darstellungen gibt, die jetzt auch zur Datierung der neuen Höhle benützt wurden. Die Proben des organischen Materials, die einmaligen Fundstücken ntnommen werden müssen, sind nämlich immer winziger geworden, und jetzt kann man es verantworten, aus Wandmalereien hundert Milligramm Holzkohle zu kratzen und deren Alter physikalisch zu bestimmen.

Die Naturwissenschaften sind also im Vormarsch in diesem vor allem von den Kunsthistorikern beherrschten archäologischen Gelände, auf dem die Deutung immer noch das größte Ansehen genießt. Seitdem der legendäre Abbé Henri Breuil den Jagd und Fruchtbarkeitszauber inthronisierte, und seit André Leroi-Gourhan seine Interpretation der Steinzeit-Sanktuarien dagegensetzte, haben Forscher nahezu aller Disziplinen eigene Erklärungen geboten. Zoologen erinnerten zum Beispiel daran, daß diese Wildbeuter wohl die besten Verhaltensforscher aller Zeiten gewesen sein müßten;jedenfalls hätten sie ihre Jagdtiere in verhaltenstypischen Situationen festgehalten, von denen ihre nur geistesgeschichtlich gebildeten Deuter keine Ahnung haben könnten.Dennoch: Warum sind diese Künstler in die hintersten Winkel von Höhlen gekrochen, die absolut lebensfeindlich waren, und warum haben sie dort in der nur von klatschenden Wassertropfen unterbrochenen Stille bei spärlichem Licht zu malen begonnen? Ist es völlig falsch, das nur staunend hinzunehmen? Offenkundig wird es so gesehen. Denn etwas nicht wissen zu können, zehrt am Gemüt gar vieler Menschen.